Den Blick für die Demokratie schärfen!

Für eine aktive Stadt- und Quartierspolitik mit einem handlungsfähigen, gestaltenden Staat und einer glaubwürdigen Bürgerbeteiligung.

Dafür plädiert der Appell von Mannheim, der im Mai 2018 auf Initiative von Dr. Konrad Hummel von Vertretern aus Kommunen, Politik, Verwaltungen, Stiftungen, Kunst und Wissenschaft diskutiert und formuliert wurde. Der Appell möchte das Bewusstsein für die Herausforderungen der (lokalen) Demokratie in Städten und Gemeinden schärfen und zur Diskussion über die demokratische Stadt der Zukunft beitragen.

Denn sowohl im demokratischen Diskurs wie in der Förderung sozialer Räume kann ein „Weiter So“ oder eine einfache  Mittelaufstockung  den Notwendigkeiten der heutigen Situation nicht gerecht werden, ja es kann Ungleichheiten und Enttäuschungen sogar verstärken. Darum gilt neu: Vertrauensbildung und aktives Bemühen um erfahrene Gerechtigkeit im sozialen Raum.

Darin liegt der Kern des Appells. Statt mehr vom Gleichen gilt es, sich die Mühe zu machen, dem gesellschaftlichen Wandel gerecht zu werden und  strukturelle Verwerfungen im Diskurs und praktisch anzugehen. Dies mit einem entschlosseneren Staat, dessen Merkmale vor Ort Ermöglichung und Wertesicherung für alle sind.  Im Gegensatz zur reinen Aufrechterhaltung oder Herstellung innerer Ordnungen, so sie die heutige Gesellschaft und vor  allem Stadtgesellschaften teilen. Das Verständnis eines aktiven sozialen Rechtsstaates, der nicht nur Individualinteressen sichert, sondern Chancen für alle gewährleistet, knüpft an den sozialen Zusammenhalt an, der diese Republik starkgemacht hat.

Die Quartiere unserer Städte sind einer der zentralen Spiegel dieser Entwicklung, an denen absehbar ist, ob uns dies gelingt oder nicht. Hier werden Generations-Zuwanderungs-Klima- oder Arbeitsmarktfragen konkret erlebt und müssen gelöst werden.  Stadtentwicklung steht in der Gefahr, Quartiere dafür unterschiedlich in die Pflicht zu nehmen.

Es geht um mehr als um Stadtsanierung oder Quartiersverbesserung, es geht um mehr als Kommunalpolitik, es geht um einen Lackmustest der Demokratie insgesamt. Und es ist keine „nationale Frage“  sondern betrifft uns in ganz Europa und in unserer europäischen Wertegemeinschaft (vgl. die französische Initiative  von Dijon).

Der Appell fordert:

  •  Die Politik muss einen handlungsfähigen, wertorientierten  Staat und seine Institutionen deutlich stärken, zugunsten eines erweiterten Freiheitsbegriffes nicht zugunsten der Herstellung von Ordnung an sich.
  • Auf der Grundlage eines ermöglichenden Staates muss sich Politik der territorialen Spaltung und Ungleichheit in  unseren europäischen Gesellschaften annehmen mit mehr als den bisherigen regionalen Ausgleichs- und baulichen Fördermitteln.
  • Zur Flexibilität gehören sichtbare, interimistische, spürbare Verbesserungen und Problemlösungen in der Stadtentwicklung.
  • Weiterer Schwerpunkt ist eine Bildungsoffensive, die mehr als den Rechtsanspruch auf Ganztagesschulen realisiert.

Der  Appell von Mannheim zum Download als pdf und im Wortlaut zum weiterlesen:

Den Blick für die Demokratie schärfen!

Für eine aktive Stadt- und Quartierspolitik mit einem handlungsfähigen, gestaltenden Staat und einer glaubwürdigen Bürgerbeteiligung.

Was  erleben wir

Erstens:

Die praktisch erlebbaren Institutionen des Staates vor Ort sind vertrauensbildende Säulen unserer offenen Demokratie (Schulen, Polizei,  Ordnungsrecht,  Jobcenter …), sie bilden mit den  Grundrechten und Werten  unserer Gesellschaft  die Basis für eine offene Republik, werden ausgefüllt  durch  Elemente erweiterter Bürgerbeteiligung  und Bürgerengagements vor Ort, dort, wo in den Städten und Stadtquartieren Demokratie  gelernt und gelebt wird.

Diesen Selbstverständlichkeiten ist in den letzten Jahren teilweise „der Boden unter den Füßen weggezogen“ worden. Die Institutionen haben gelitten oder  haben sich nicht dort, wo sie benötigt werden, weiter entwickelt!  Die Städte  werden in ihrer Entwicklung überrollt durch globale Prozesse (Arbeit, Flüchtlinge, Zuwanderung, Klima) und zerfallen in unterschiedlich leistungs- und integrationsfähige Quartiere. Deren Segmentierung hat mittlerweile qualitativ neue Ausmaße erreicht  jenseits der  ökonomischen  Spaltung  als eine manchen fremd erscheinende Herausforderung ethnisch-normativer Vielfalt. Die Bürgerbeteiligung wird in der politischen Rhetorik beschworen,  ohne eine Antwort zu finden, wie die Schräglage ungleicher Teilhabe angegangen und die langfristigen Folgen auch für Entscheidungsprozesse mit den gewählten Gremien und den sie tragenden Parteien gelöst werden! Der Informationsstand der Beteiligten reduziert sich oft auf mediale Debatten und aufgeregte Tagesthemen!

Die politisch Verantwortung Tragenden versuchen, sowohl in ihrer Rhetorik „noch mehr Beteiligung“, noch mehr individuelle Sozialleistungen als auch  noch mehr kommunale Unterstützungsmittel  für den Städtebau und den ländlichen Raum zu versprechen. Mehr vom Gleichen schafft aber weder Vertrauen  noch wird sie dem darunter liegenden Wandel der Gesellschaft selbst gerecht.

Zweitens

Eine Gesellschaft, die sich auf allen Gebieten gleichzeitig wandelt, vom  demografischen über den ethnisch und sozialen bis zum digitalen Wandel, benötigt nicht mehr Beteiligungsversprechen, wo die Klärung des Miteinanders angesagt ist, nicht mehr Fördermittel ausschließlich für Gebautes wo integrierte Lösungen der Bildungs-Ordnungs- Sozial- und Arbeitsmarktpolitik angezeigt sind, nicht  mehr Fernsehdebatten, wo wesentliche Teile der Gesellschaft gar nicht präsent sind und sich aus unterschiedlichsten Informationsquellen speisen.

Die Selbstverständlichkeiten unserer bisherigen Demokratie bedürfen eines genaueren Blickes darauf: Die Einmischung  in die Gesellschaft ist nicht von vornherein ein unterstützungswürdiges Engagement für eine offene Demokratie. Eine Stadtverwaltung, die allem gegenüber „neutral“ zu sein hat, kann  grundlegende Werte und Minderheitsinteressen der Gesellschaft nicht mehr glaubwürdig und wirksam schützen.

„Traditionelle“ Stadtentwicklungsmaßnahmen  sind nicht automatisch wirksam, wenn sich die Bevölkerungsgruppen und Zusammensetzung so geändert haben, dass in einigen Stadtquartieren keine Gruppe mehr die Mehrheit hat. Die fürsorgliche Unterstützung einzelner Gruppen in der Gesellschaft ist keine Garantie für den Zusammenhalt der Gesellschaft, wenn diese sich normativ aufgespalten hat, sich ihrer Werte nicht mehr sicher ist. Dann kann ein „mehr vom Gleichen“ die Konkurrenz aller gegen alle anderen nur anheizen.

Drittens

Es haben sich  besondere Vielfaltsquartiere in den meisten größeren Städten herausgebildet, die sich von den bisher bekannten Armutsbrennpunkten in so weit unterscheiden, als daß sie vital, urban, gemischt  funktionieren. Gleichwohl aber ohnmächtig gegenüber dem bisherigen rechtsstaatlichen Anspruch sind, z.B. Chancengleichheit für alle lernenden Kinder herzustellen. Wenn Teile des Ordnungsrechts nicht mehr greifen und  das Stigma von „no go areas“ produzieren. Diese Quartiere  bieten der Gesellschaft ununterbrochen Anlass, an der Funktionstüchtigkeit des Staates zu zweifeln. Diese Quartiere stellen für Städte überall in Europa eine große Herausforderung dar. Umgekehrt werden sie sogar zur permanenten Angstquelle populistischer Sammlungsbewegungen verunsicherter Bürger. Es muss ein gesamtstaatliches Interesse sein, Städte und besonders diese Quartiere funktionstüchtig zu halten für balancierte, demokratisch gesteuerte Entwicklungsprozesse.

Gelingt dies nicht, nutzen auch Modernisierungsbemühungen im ländlichen Raum oder mehr Beteiligungsversprechen im bürgerlichen Sektor nicht, weil diese Quartiere dann für alle sichtbar und abschreckend das Gegenteil dessen werden, was sie nach allgemeinem Anspruch werden müssten: Sozialräume gegenseitiger Aufmerksamkeit und Gemeinschaft.

Praktische Forderungen

Im  Kreis von bundesweit versammelten  Wissenschaftlern, Geografen, Stadtplanern,  Soziologen und Verantwortung tragenden Praktikern wurden die Herausforderungen für Demokratie in den Städten 2018 mehrfach in Mannheim diskutiert und dieser Appell so zusammengefasst:

* Die Politik muss einen handlungsfähigen, wertorientierten  Staat und seine Institutionen deutlich stärken, zugunsten eines erweiterten Freiheitsbegriffes nicht zugunsten der Herstellung von Ordnung an sich.

Staat und seine Verwaltungen  haben sich den Grundrechten und Grundwerten gegenüber offensiv und nicht neutral defensiv zu verhalten. Dies gegenüber allen Teilen der Gesellschaft nicht im Sinne einer „Verteidigung gegenüber Außen und Fremdem“ sondern der „Ermöglichung und Gewährleistung für Grundrechten und sozialer Rechtsstaatlichkeit“ (vgl. Artikel 20 Grundgesetz).

Die Rechtsgrundlagen und Informationsquellen sind weiterzuentwickeln, um dem aktuellen Stand der gesellschaftlichen Vielfalt gerecht zu werden. Besonders auf örtlicher Ebene ist eine Informations- und Teilhabechancengleichheit nicht mehr gewährleistet ohne einer Struktur, die z.B. mit den öffentlich-rechtlichen Medien auf nationaler Ebene dem Grunde nach vergleichbar wäre. Eine weiterzuentwickelnde Bürgerbeteiligung muss authentischere Teilhabemöglichkeiten für alle sichern ohne die repräsentativen Gremien und Parteien so zu unterspülen, dass die Spaltung der Gesellschaft weiter zunimmt und die Orientierung an den Grundwerten nicht mehr gesichert ist.

*Auf der Grundlage eines ermöglichenden Staates muss sich Politik der territorialen Spaltung und Ungleichheit in  unseren europäischen Gesellschaften annehmen mit mehr als den bisherigen regionalen Ausgleichs- und baulichen Fördermitteln.

Den sich mehrenden und verfestigenden Vielfaltsquartieren gegenüber müssen Städte, Länder, Bund und EU eine konzertierte und integrierende Antwort finden. Im Mittelpunkt muss die Chancengleichheit und nicht nur „gleichere Lebensverhältnisse“ stehen, die in allen Quartieren unserer Städte zu gewährleisten sind. Die Quartiere gilt es als potentielle  Lokomotiven der Demokratie  zu betrachten bei der Verbesserung  zukünftiger Informations- und Arbeitsweltherausforderungen, der Integration in Vielfalt  und der Spaltung. Die Städtebauförderung(Programm Soziale Stadt) benötigt dafür  flexiblere, lokal verantwortete, integrierte Politikprogramme, die rechtsstaatlich einklagbar werden sollen.

*Zur Flexibilität gehören sichtbare, interimistische, spürbare Verbesserungen und Problemlösungen in der Stadtentwicklung.

Die Unterstützung des Wohnungsbau hat der genauen Justierung auf neue Verhältnisse gerecht zu werden, in dem gemeinschaftsorientierte Wohnlösungen, Eigentumsbildung als Integrationshilfe, differenzierte Wohntypologien und Erbpachtmodelle ermöglicht werden. Die Verknüpfung mit einer punktuellen Stärkung der Jugendhilfe, der Polizei, einer integrierten Gesundheits- und Altenpflege liegt auf der Hand , ebenso wie die Unterstützung des Wandels der Vereinsarbeit in den Quartieren.

*Weiterer Schwerpunkt ist eine Bildungsoffensive, die mehr als den Rechtsanspruch auf Ganztagesschulen realisiert.

Auch hier ist als Folge  der genauen Analyse der Bildungsergebnisse der letzten Jahrzehnte eine differenzierte Bildungsoffensive in den Quartieren zu starten, die sowohl  einer  ungleichen  Zusammensetzung von Schulklassen, dem Bedarf differenzierter Eltern- und Einzelfallarbeit, also  einer ganzen Lernlandschaft gerecht wird, die oftmals  an den Zuständigkeitsabgrenzungen von Land, Gemeinden und Bundesmodellprogrammen scheitert.

Perspektive

Sowohl im demokratischen Diskurs wie in der Förderung sozialer Räume kann ein „Weiter So“ oder eine einfache  Mittelaufstockung  den Notwendigkeiten der heutigen Situation nicht gerecht werden, ja es kann Ungleichheiten und Enttäuschungen sogar verstärken. Darum gilt neu: Vertrauensbildung und aktives Bemühen um erfahrene Gerechtigkeit im sozialen Raum.

Darin liegt der Kern des Appells. Statt mehr vom Gleichen gilt es, sich die Mühe zu machen, dem gesellschaftlichen Wandel gerecht zu werden und  strukturelle Verwerfungen im Diskurs und praktisch anzugehen. Dies mit einem entschlosseneren Staat, dessen Merkmale vor Ort Ermöglichung und Wertesicherung für alle sind.  Im Gegensatz zur reinen Aufrechterhaltung oder Herstellung innerer Ordnungen, so sie die heutige Gesellschaft und vor  allem Stadtgesellschaften teilen. Das Verständnis eines aktiven sozialen Rechtsstaates, der nicht nur Individualinteressen sichert, sondern Chancen für alle gewährleistet, knüpft an den sozialen Zusammenhalt an, der diese Republik starkgemacht hat.

Die Quartiere unserer Städte sind einer der zentralen Spiegel dieser Entwicklung, an denen absehbar ist, ob uns dies gelingt oder nicht. Hier werden Generations-Zuwanderungs-Klima- oder Arbeitsmarktfragen konkret erlebt und müssen gelöst werden.  Stadtentwicklung steht in der Gefahr, Quartiere dafür unterschiedlich in die Pflicht zu nehmen.

Es geht um mehr als um Stadtsanierung oder Quartiersverbesserung, es geht um mehr als Kommunalpolitik, es geht um einen Lackmustest der Demokratie insgesamt. Und es ist keine „nationale Frage“  sondern betrifft uns in ganz Europa und in unserer europäischen Wertegemeinschaft (vgl. die französische Initiative  von Dijon).

Sind wir zukunftsfähig und verhindern die dauerhafte Spaltung einer  Vielfaltsgesellschaft  ? Fordern  wir  die Mitwirkung an der Demokratie durch alle Gruppen ein  oder reduziert sich Demokratie auf die Interessenvertretung und Sicherung des Burgfriedens wortstarker Gruppen und derer, die Besitzstände verteidigen?

Deshalb richtet sich der Appell an die Politik aller Entscheidungs- und Förderebenen.

Für die Erstunterzeichner:

Dierk Borstel, FHS Dortmund; Petar Drakul, Stadt Mannheim; Rolf Frankenberger, Uni Tübingen; Rolf Hoberg, Stuttgart; Konrad Hummel, Mannheim;  Philipp Kohl, Filmemacher; Stefan Krämer, Wüstenrot Stiftung; Peter Kurz, Oberbürgermeister Stadt Mannheim;  Dieter Lehmann, Amtsleiter in Schwäbisch Gmünd; Christian Reutlinger, Hochschule St. Gallen,Andrea Schröter, Club Speicher 7 Mannheim

Der Kreis besteht aus weiteren Wissenschaftlerinnen und Praktikern.

Die Sitzungen wurden unterstützt von der Wüstenrot-Stiftung, dem Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg, Club Speicher 7 Mannheim und Stadt Mannheim.

Kontaktadresse und Initiative: Dr. Konrad Hummel @ konradhummel@web.de

Stand 23.5.2018

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