Ein Bericht vom Panel der Themengruppe „Vergleichende Diktatur- und Extremismusforschung“ bei der Sektionstagung „Vergleichende Politikwissenschaft“ der DVPW, 20.-22.9.2010, Duisburg.
Unter dem Titel „Bad Governance? Politik und Ökonomie in Autokratien“ organisierten und moderierten für die Themengruppe Daniel Buhr und Rolf Frankenberger (Universität Tübingen) ein eigenes Panel. Während klassische Definitionen von Regieren in der Regel nur in demokratischen Gesellschaften, und häufig unter einer normativ geprägten Perspektive (Good Governance) analysiert werden, erschien es lohnenswert, folgende Fragestellungen unter einem ganz im Weberschen Sinne neutralen analytischen Blickwinkel zu betrachten und auf moderne Autokratien auszuweiten:
(1) Wie gestalten sich die Interaktionsmuster von Politik und Ökonomie in modernen Autokratien?
(2) Gibt es in autokratischen Systemen ähnliche Steuerungsmechanismen wie in demokratischen Systemen – oder bilden sich spezifische Governancemuster heraus?
(3) Wer sind die zentralen Akteure und Netzwerke obiger Austauschbeziehungen?
Mit diesen Leitfragen an der Schnittstelle von Diktatur und Kapitalismus setzten sich die Referenten jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven auseinander. Dabei lag der Fokus des Panels neben konzeptionellen Überlegungen vor allem auf der Analyse von Entwicklungen und Prozessen der Steuerung in Zentralasien, in China und dessen Nachbar-staaten sowie der Energiepolitik Russlands und Chinas im Vergleich.
Nach einer kurzen Einführung widmete sich Jörg Faust vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) der Frage, warum einige Autokratien über längere Zeiträume über-durchschnittlich stark wachsen und so die Versorgung mit öffentlichen Gütern verbessern und damit letztlich „attraktive Fälle“ bzw. Vorbilder für solche Regierungen darstellen, die Demokratisierung scheuen. Auf der Basis von Überlegungen und Erkenntnissen von Public Choice und Selectorate Theorie entwickelte Faust die These, dass die Erfolge nur damit zu erklären sind, dass insbesondere so genannte „kompetitive Autokratien“ partielle Ähnlichkeiten bzw. funktionale Äquivalenz zu Demokratien aufweisen und ähnliche Mechanismen nutzen, um auf diese Weise von einer verbesserten Bereitstellung öffentlicher Güter zu profitieren. Die Unterschiede zwischen den Autokratien führt Faust auf Divergenzen hinsichtlich der Inklusivität und der Existenz von Checks & Balances zurück, wobei gilt: je höher die Inklusivität und je größer die Checks & Balances in Autokratien, desto besser die Performanz. Regime mit ho-hem Grad an organisatorischer Institutionalisierung und geringer Abhängigkeit von einem Führer stellen den Typus „attraktiver Autokratien“ dar, welche anhand der Fallbeispiele Mexiko (1945-1965) sowie gegenwärtiges China illustriert wurden.
Auch Julia Bader vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) argumentierte auf der Basis der Selectorate Theorie, um eine neue Perspektive auf autokratische Stabilität zu eröffnen. Dabei rückte sie die Frage externer Systemproliferation ins Zentrum ihrer Untersuchung und entwickelte die These, dass Autokratien leichter zu beeinflussen und auszubeuten sind, da die Machthaber in solchen Regimen vergleichsweise weniger auf die Verteilung und Produktion öffentlicher Güter zurückgreifen können, indes von der Verteilung privater Güter abhängig sind. Je kleiner die gesellschaftliche Basis des Regimes, desto abhängiger ist das Regime von der Befriedigung der Interessen durch die Verteilung privater Güter, die wiederum generiert werden müssen (etwa durch politische Renten). Bader illustrierte am Beispiel der Außenpolitik Chinas ge-genüber der Monglolei, Kambodscha und Burma, wie die Größe der gesellschaftlichen Basis des jeweiligen Regimes die Einstellungen gegenüber der Ein-China-Politik, dem Zugang zu Ressourcen und geostrategischen Interessen beeinflusst. Während sich das mongolische Regime mit seiner breiten Herrschaftsbasis chinesischen Interessen wi-dersetzt, erweisen sich die Regime mit kleiner Machtbasis – Burma und Kambodscha – als fügsame Partner.
Den Fokus auf Herrschafts- und Umverteilungsmechanis-men im zentralasiatischen Raum legte Inna Melnykovska von der Universität Kiel mit der Vorstellung von Ergebnis-sen eines gemeinsamen Projekts mit Andrea Gawrich (Universität Kiel) und Rainer Schweickert (Kiel Institute for the World Economy) unter dem Titel „More than Oil and Democracy“. Da auf der Basis einer Regressionsanalyse hinsichtlich des Einflusses von Resourcenrenten, internationaler Finanzhilfen, interner Spannungen und Konflikte, Kohä-sionsgraden und der Distanz zu westlichen Integrationssysteme auf die Qualität von Governance (WBGI-Indikator) sich im postsowjetischen Raum große Heterogenitäten und unerklärte Abweichungen zeigten, müsse eine weitere Einflussgröße für diese Varianz verantwortlich sein. Melny-kovska argumentierte, die regionalen und länderspezifischen Unterschiede in Governance-Mustern ließen sich über die Dimension des Neopatrimonialismus erklären und schlug eine Klassifikationsmatrix entlang der Dimensionen politischer Wettbewerb, informelle und formale Machtak-kumulation sowie paternalistische Mentalitäten vor, die eine Einteilung in sultanistische (Usbekistan, Turkmenistan), oligarchische (Kirgisistan, Kasachstan, die Ukraine vor der Revolution, Russland (Jelzin), bürokratische (Russland seit Putin) und softe Neopatrimonialismen (Georgien, die Ukraine nach der Revolution, Moldawien) erlaube und so unterschiedliche Governance-Mechanismen beleuchten könne.
Einen gänzlich anderen Blickwinkel auf Governance-Strategien in Autokratien nahm Stephan Ortmann von der FernUniversität Hagen ein. Er stellte die Ergebnisse einer Untersuchung chinesischer Fachliteratur vor, die sich mit der Frage beschäftigte, inwieweit chinesische Offizielle und Wissenschaftler sich mit Singapur, dem Erfolgsmodell au-toritärer Entwicklung der letzten Jahre, auseinandersetzen. Damit rückte er die Lernfähigkeit des chinesischen Regimes ins Zentrum seines Interesses und kam zu dem Ergebnis, dass das Singapur-Modell chinesischen Offiziellen als Leitbild dient(e) und dass chinesische Wissenschaftler sich umfassend mit den Erfolgsfaktoren dieses Modells auseinandersetzen, u.a. die rigorose Bekämpfung von Kor-ruption durch konsequente Verfolgung derselben. Ortmann kam zu dem Schluss, dass China substantielle politische Reformen sowie ein schnelles Vorgehen gegen die zuneh-mende Korruption einleiten müsste, um dem Singapur-Modell zu folgen. Allerdings sei nicht erkennbar, dass die Kommunistische Partei Chinas zu Reformen bereit sei, was einen Erfolg unwahrscheinlich mache.
Den Blick von China auf die Frage der Energieversorgung und Energiesicherheit in Autokratien weitend, stellte Steffen Jenner von der Universität Tübingen ein gemeinsam mit Mathias Gabel (Universität Tübingen), Gabriel Chan (John F. Kennedy School of Government, Harvard University) und Stephan Schindele (HSB Business School Reutlin-gen) durchgeführtes Projekt zu Governance und Energiesi-cherheit in den BRIC-Staaten vor. Ausgehend von einer wachsenden Nachfrage nach Energie stelle sich die Frage, ob es seine Beziehung zwischen Governance-Modi und der Herstellung von Energiesicherheit gebe, wobei normaler-weise vier Maßnahmen im Mittelpunkt stünden: Bildung von Reserven, Sicherung des Netzes, Dekonzentration und Dezentralisierung der Produktionsstätten. Als gemeinsames Muster ließ sich identifizieren, dass alle Regierungen der BRIC-Staaten die Mehrheitsanteile an den nationalen Öl- und Gasunternehmen hielten, während sich hinsichtlich des Versorgungsnetzes deutliche Unterschiede zeigten, die mit dem Autokratiegrad korrelierten: Einerseits besitzen Russ-land 96% und China 100% des nationalen Versorgungs-netzes, während Indien 48% besitze und starker Konkurrenz ausgesetzt sei und Brasiliens rurale Regionen von lo-kalen Netzen abhingen. China und Russland produzierten im Vergleich zu Brasilien und Indien zudem mehr als vier-mal mehr Energie und konzentrierten ihre Produktion zum Zwecke der Kontrolle. Das für Autokratien generell gelten-de Governance-Muster der umfassenden Kontrolle stelle somit das zentrale Steuerungsmittel für die Herstellung von Energiesicherheit.
Den Abschluss des Panels bildete eine offene Diskussion, in der mehrere Punkte herausgehoben wurden. Erstens, dass es eine ganze Reihe hoch interessanter Forschungsansätze gibt, welche sich bemühen, sich dem Verhältnis von Politik und Ökonomie in Autokratien empirisch wie konzeptionell zu nähern. Insbesondere ökonomische Theorien scheinen dabei aufgrund ihres zunächst wertfreien Zugriffs beson-ders geeignet zu sein. Daher sollten diese in Zukunft auch verstärkt in die Untersuchung von Autokratien eingebun-den werden. Zweitens erscheint die Perspektive der Steue-rung ein erstaunlich fruchtbarer Zugriff auf informelle Prozesse und Strukturen in Autokratien zu sein. So erscheinen unterschiedliche Formen des Neopatrimonialismus in die-sem Lichte als komplexe Regelungs- und Umverteilungssysteme innerhalb autoritärer Gesellschaften. Verbindet man etwa die präsentierten Ansätze der Selectorate Theory mit Ansätzen neopatrimonialer Herrschaft, so erscheinen letztere als Mechanismen der Verknappung oder Verbreite-rung der Basis politischer Herrschaft, also des Selectorate, und ermöglichen eine Unterscheidung politischer Systeme jenseits des Vorhandenseins bzw. der Abwesenheit demokratischer Merkmale, wie Jörg Faust und Rolf Frankenberger betonten. Drittens werden alle Kernfragen tangiert, die in der vergleichenden Analye politischer Systeme – seien es Demokratien oder Autokratien – virulent sind: Perfor-manz, Responsivität, Accountability, Legitimität und nicht zuletzt die Frage nach der Grundausrichtung der Beschäftigung mit Autokratien. Soll diese aus einer normativ geprägten demokratisierungstheoretischen Perspektive der Wünschbarkeit von Demokratisierung und der Ergründung der Bedingungen einer solchen heraus geschehen oder soll zunächst das distanzierte Erfassen, Analysieren und Verstehen der vorgefundenen Phänomene im Vordergrund stehen. Und nicht zuletzt erscheint die Frage der Typologisierung politischer Systeme nicht gelöst.
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