Mit der Amtsübernahme der grün-roten Regierungskoalition in Baden-Württemberg im Jahr 2011 begann eine neue politische Zeitrechnung – zumindest im Selbstverständnis der Regierungsparteien. Damit verbunden war ein Aufbruch zu neuen demokratischen Ufern, hatten sich doch sowohl die SPD als auch Bündnis90/Die Grünen den Slogan „Mehr direkte Demokratie wagen“ in ihre Wahlprogramme eingeschrieben (Bündnis90/Die Grünen 2010; SPD 2011). Nicht zuletzt wurde ein Perspektivwechsel auf die öffentlichen Meinung weg vom elitenzentrierten „aufs Maul schauen“ Erwin Teufels (Stimme 2008) hin auf das bürger:innenzentrierte „Gehörtwerden“ Winfried Kretschmanns (2013) vollzogen.
Dass sich hinter dieser rhetorischen Figur der „Politik des Gehörtwerdens“ eine ernst zu nehmende politische Agenda der Demokratisierung der Demokratie (Pateman 1970; Geißel 2008) verbarg, zeigten von Anfang an die Reformpläne, die von der Senkung von Quoren für Volksbegehren und -abstimmungen auf Landesebene, Bürgerbegehren und -entscheide auf Kommunalebene sowie deliberative Bürgerbeteiligung im Rahmen von Gesetzes- und Planungsverfahren (Kretschmann 2013) ein breites Spektrum an direktdemokratischen und deliberativen Elementen umfasste. Damit wurde auf Herausforderungen wie die Entscheidungsfindung bei Stuttgart 21 und den vielfältig geäußerten Wunsch nach mehr Beteiligung reagiert. Zudem sind auch grundlegende demokratietheoretische Fragen wie die nach Repräsentation und Partizipation, Performanz, Responsivität und Legitimation politischer Herrschaft angesprochen.
(Repräsentative) Demokratie als Herrschaftsmodell ist trotz einer deutlich höheren Qualität als noch in den 1960er Jahren nicht mehr unumstritten: Die normative Dimension demokratischer Legitimität, die sich in Autonomie und Selbstbestimmung des Individuums innerhalb eines Herrschaftsverbandes zeigt, divergiert in eigentümlicher Weise von der individuellen Wahrnehmung der Qualität der Demokratie, sei es bezüglich ihrer normativen Grundlagen, ihrer Mitbestimmungsmöglichkeiten oder ihrer Leistungen (vgl. Kneip/Merkel 2020). Als Lösung für das Problem steigender Unzufriedenheit bei steigender Qualität der Demokratie wird gerade der Öffnung und Erweiterung der so genannten Input-Seite, also der Möglichkeiten, auf politische Entscheidungen direkt oder indirekt Einfluss zu nehmen, erhebliches Potential zugeschrieben. Dabei werden sowohl deliberative (Fishkin 1991, 2009; Dryzek 2000; Goodin 2008) als auch direktdemokratische (Pateman 1970; Barber 1984; Schiller 2016) Partizipationsmöglichkeiten vorge- schlagen. In diesen Kontext lassen sich auch das grün-rote Projekt „Mehr direkte Demokratie wagen“ und die „Politik des Gehörtwerdens“ einordnen.
In meinem Beitrag zum Jahrbuch des Föderalismus 2022 bilanziere ich die “Politik des Gehörtwerdens” vor dem Hintergrund einiger demokratietheoretischer Überlegungen. Die Enpirie zeigt, dass Bürgerbeteiligung im Grunde schon immer in der DNA der Menschen im Ländle verankert war. Mit der Politik des Gehörtwerdens wird sie nun auch in das Erbgut von Politik und Verwaltung eingeschrieben, wie die Diskussion von einigen Beteiligungsleuchttürmen zeigt. Dass sich der Fokus dabei von direkten auf deliberative Verfahren verschoben hat, ist ein zentraler Befund, der im Fazit gewürdigt wird.
Frankenberger, Rolf (2022): Mehr direkte Demokratie wagen? Die “Politik des Gehörtwerdens” zwischen Anspruch und Wirklichkeit. In: EZFF (Hrsg.): Jahrbuch des föderalismus 2022. Baden-Baden: Nomos, pp.196-212
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