Der folgende Text ist eine überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich unter dem Titel ” Terroristen als Gesetzgeber?” habe.
Terroristen als Gesetzgeber?
Dieser Titel lässt sich wohl auf mehrere Arten interpretieren, die sich substantiell voneinander unterscheiden. Von der Syntax her impliziert die Frage, ob Terroristen unsere Gesetze machen. Sitzt Osama Bin Laden im Bundestag? Nein! Dennoch, und das wäre ein weiterführender Gedanke in diese Richtung, könnte man diskutieren, ob Terroristen aufgrund ihrer schieren Existenz und mindestens einmaligen Handlung einen Gesetzgeber so in Angst und Schrecken zu versetzen in der Lage sind, dass dieser Gesetze erlässt, die die Freiheit von Bürgern stark einschränken. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an den Patriot Act. Eine weitere sowohl semantisch als auch syntaktisch mögliche Interpretation ist folgende: Sind unsere Gesetzgeber Terroristen? Sind wir BürgerInnen, als all die jenigen, von denen die Staatsgewalt ausgeht, Terroristen?
Ohne eine Begriffsklärung kann diese Frage wohl kaum beantwortet werden. Terror bedeutet Schreckens- oder Gewaltherrschaft, Terroristen sind gewalttätige politische Extremisten. Das trifft dann nun doch nicht auf die Legislative zu. Aber die als Titel aufgeworfene Frage provoziert ebenso wie das Thema, welches sich im weitesten Sinne um Überwachung, konkreter solche Überwachungsmaßnahmen, die der Staat in Form seiner obersten Exekutiven in den Politikfeldern des Inneren und der Justiz mit der Argumentation einer Bedrohung durch den „global agierenden“ Terrorismus in die tagespolitische Diskussion einbringt. Die Reaktionen auf die angestoßene Debatte sind, gelinde gesagt, kontrovers. Stein des Anstoßes sind nicht selten die Äußerungen von Wolfgang Schäuble, der etwa in der Aktuellen Stunde des Bundestags am 20.September 2007 folgendes sagte: „Diejenigen, die sagen, auf der Basis unseres Grundgesetzes wollen wir auch in Zukunft unsere Freiheit wahren und im Rahmen dieser Freiheit den Menschen das mögliche Maß an Sicherheit gewähren, planen keine Anschläge auf die Verfassung, sondern machen die Verfassung auch in Zukunft krisenfest.“ [Plenarprotokoll 16 / 115, rev. 30.04.2008]
Vermutlich sind es Aussagen wie diese, die etwa die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth zu folgender Replik auf den BKA-Gesetzesentwurf motivierten: „Frau Zypries und Herr Schäuble, die sind nun wirklich ein Duo Infernale des Schnüffelstaats“ (Zitiert nach Stuttgarter Zeitung, 22.04.2008 S.2).
Denn man fragt sich zurecht, was denn angesichts drohender Terroranschläge und angesichts der versuchten Bemächtigung des Diskurses durch Herrn Schäuble „das mögliche Maß an Sicherheit im Rahmen unserer Freiheit“ ist. Sind Freiheit und Sicherheit nicht in gewisser Weise Antagonisten, was Benjamin Franklin mit dem Satz „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren“ so treffend zusammenfasste?
Jenseits dieser tagespolitisch inspirierten Diskussion gilt es, einige Anmerkungen eher theoretischer Natur zum Themenkomplex Terrorismus, Überwachung und Sicherheit zu machen, um diesen auf ein anderes Abstraktionsniveau zu heben und in einen größeren Rahmen einzubetten. Denn es sind aus meiner Sicht drei zentrale Wandlungsprozesse unserer Welt, die es überhaupt erst ermöglichen, eine Bedrohung durch internationalen Terrorismus als plausibel erscheinen zu lassen.
Zum einen ist dies der Prozess der zunehmenden Globalität – nicht Globalisierung – , der zur Folge hat, dass „ein Zustand erzwungener Nachbarschaft mit unzähligen zufällig Koexistierenden“ entsteht, wie Peter Sloterdijk (2005:277) richtig formuliert. Diese erhöhte Dichte des Beisammenseins führt, so Sloterdijk weiter, zu erhöhten Interaktionsgraden und -intensitäten, denen per definitionem – wir wissen es nicht nur aus Sozialpsychologie und Statistik – die Gefahr erhöhter Konfliktrisiken inhärent ist.. Dies gilt zumal dann, wenn sich ein wie auch immer gearteter missionarischer Eifer in diese Interaktionen einflicht.
Ein zweiter Prozess ist die Informatisierung, Digitalisierung und Mediatisierung unserer Welt, welche den Ort, den Topos, gerade zu atomisiert. In Echtzeit gelangen Informationen von einem zum anderen Ende der Welt, ohne dass Raum noch eine bedeutende Rolle spielen würde.
Der dritte, in diesem Kontext maßgebliche, Prozess ist aus meiner Sicht in der zunehmenden Kapitalisierung sozialer Interaktionen aller Art zu sehen. Eng verbunden mit Informatisierung und Globalität konsumieren wir, definieren wir Sein über Konsum der verschiedensten Arten. Entscheidend sind dabei die mit den Konsumgütern verbundenen Zeichen, die uns eine neue Art der Konstruktion von Wirklichkeit und Identität ermöglichen [vgl. zur Consumer Society Baudrillard 1970 und 1976].
Alle diese Prozesse bewirken in unterschiedlicher Weise, dass die Souveränität des Staates untergraben, aber zumindest transformiert und abgeschwächt wird. Durch Globalität wird die Bedeutung von Staat und Staatsvolk transzendiert, durch Informatisierung der weltweite Austausch von Informationen in ungeahnten Mengen möglich, der sich weitgehend staatlichen Zugriffen entzieht. Und nicht zuletzt werden Gesellschaften durch die sich ausbreitende Bedeutung von konsumbasierten Lebensstilen so transformiert und neu konfiguriert, dass Menschen aus dem gleichen transnationalen sozialen Milieu mehr miteinander gemeinsam haben und Kommunikationsformen miteinander teilen, als Menschen mit der selben Nationalität [vgl. Ueltzhöffer 1999 sowie Frankenberger 2008] Immer weniger Zugriff auf und Kontrolle über Prozesse, Individuen und Gruppen bedeutet eine Schwächung des Staates, die zudem medial befördert wird.
Zusammen genommen, ergeben diese Prozesse eine Spielwiese für den „global agierenden“ Terrorismus. Oder, wie Peter Sloterdijk auf der Basis der Konsumlogik im „Weltinnenraum des Kapitals“ richtig analysiert: „Die Bombenleger haben besser als viele Produktionsgesellschaften verstanden, dass die Herren der Kabel nicht alle Inhalte im Studio erzeugen können und auf externe Ergebniszufuhr angewiesen sind“ (Sloterdijk 2005: 282). Und was wäre besser zur Vermarktung geeignet als ein unter dem Idiom 9/11 bekannt gewordenes Ereignis?
Aber, und das ist das Paradoxon an der ganzen Geschichte: Der so genannte „global operierende“ Terrorismus agiert in Wirklichkeit dezidiert lokal. Nichts ist topographisch begrenzter als der terroristische Akt an sich. Und nur durch die systemischen Randbedingungen gewinnt er an Bedeutung: „Wenn sie ihre telegenen Explosionen an den geeigneten Stellen platzieren, nutzen sie [die Terroristen] intuitiv die hyperkommunikative Verfasstheit derf westlichen Infosphäre aus. Mittels minimaler Invasionen beeinflussen sie das gesamte System, indem sie, wenn der Ausdruck erlaubt ist, seine Akkupressurpunkte anregen“ (Sloterdijk 2005:283).
Infolge dieser „Stimulation“, die zusammen mit den schon erwähnten Prozessen die Souveränität des Staates und seinen Auftrag, die Sicherheit der BürgerInnen zu gewährleisten, in Frage stellt. Auf diese doppelte Bedrohung reagieren Staaten weitgehend reflexhaft mit althergebrachten und als überwunden und in den innenpolitischen Giftschrank verbannt geglaubten Maßnahmen: Überwachung und Bespitzelung im Dienste der Sicherung der Freiheit.
Vor diesem Hintergrund konsequent interpretiert, stellt die Einführung von Überwachungsmaßnahmen das letzte Gefecht er Nationalstaaten gegen den zunehmenden Bedeutungsverlust und das Entgleiten der Souveränität über Territorium und Gesellschaft dar – ein folgerichtiges, wenn auch verzweifeltes Aufbäumen. Denn die Frage, „… ob der westliche Staat der Gegenwart seinen Bürgern ausreichenden Lebensschutz zu gewähren imstande ist, wir durch die Tatsachen so eindeutig beantwortet, dass es töricht wäre zu behaupten, sie sei im Ernst erneut zu stellen“ (Sloterdijk 2005:289). Eine andere Frage, die von Jacques Derrida zurecht gestellt wird, ist dann jedoch die: „Was wird aus dem Motiv des Terrorismus, wenn das alte Gespenst der staatlichen Souveränität seine Glaubwürdigkeit verliert? Diese Situation ist durch das angeblich zentrale, auf einen ominösen 11.September 2001 datierte Ereignis gewiss nicht geschaffen, ja nicht einmal an den Tag gebracht worden, auch wenn die mediale Inszenierung (…) die Struktur und die Möglichkeit des besagten Ereignisses bildete“ [Derrida 2003:218].
Denn was bedeutet Überwachung für einen Staat? Versuchen zu erfahren, was personifizierte Bedrohungen für den Staat tun und wollen, ist eine nahe liegende Antwort, denn es ist zunächst nicht primär der Bürger, der Ziel von Überwachung in diesem Sinne wird. Erst wenn die Unschuldsvermutung dem Generalverdacht zu weichen hat, kommt es zu diesem Szenario. Eine weitere Bedeutung lässt sich in der Etymologie des Begriffs „überwachen“ finden, der aus den Teilen „über“ und „wachen“ zusammengesetzt ist. „Über“ bedeutet als Angabe einer dreidimensionalen Anordnung so viel wie „oberhalb“, im indogermanischen Sprachstamm auch „hinauf“, sich also über etwas stellen. Dies impliziert eine Hierarchie, ein „über jemand anderem stehen“. „Wachen“ kein ein „wach sein“ im Sinne von nicht schlafen, ein „Wache halten bedeuten, also im weitesten Sinne ein Beschützen (auch wenn der Referent fehlt), aber auch ein „Be-Wachen“ ein Aufpassen. Vom indogermanischen Sprachstamm wako kommend, steht „wache“ auch für „stark“ und „frisch“, also potent und handlungsfähig.
Überwachung ist also in diesem Sinne ein Manifest von Stärke und Überlegenheit, was auch den Zusammenhang zwischen Überwachung und Souveränitätsverlust plausibel macht. Letztlich kommt es dann auch nicht darauf an, ob diese Stärk real oder nur simuliert ist, ein Simulakrum von Handlungsmacht und Stärke (vgl. Baudrillard 1998 und 2005), solange die Mehrheit der BürgerInnen daran glaubt. Dass sie dies tun, bestätigen die zahlreichen aufgeregten Diskussionen um das Thema Überwachung. Übersehen wird dabei oft, dass über die Einzelnen aufgrund von Kredit- und Schckkartendaten, von Payback- und anderen Bonussystemen, von Einkaufsverhaltensprofilierungen, von Googleabfragen und sozialer Software des Web 2.0 über jede(n) einzelne(n) BürgerIn mehr Informationen bekannt sind, als der Staat mit seinen Überwachungsmaßnahmen jemals in Erfahrung bringen könnte.
In einer ganz praktischen Wendung des Begriffs Überwachung manifestiert sich dann das, was man mit Foucault (1994:264) im Sinne des Bentham’schen Panoptikon analysieren kann: „Es handelt sich um einen bestimmten Typ der Einpflanzung von Körpern im Raum, der Verteilung von Individuen in ihrem Verhältnis zueinander, der hierarchischen Organisation, der Anordnung von Machtzentren und -kanälen, der Definition von Instrumenten und Interventionstaktiken der Macht“ , der der Perfektionierung und Rationalisierung der Machtausübung dient, denn Interventionen sind zu jedem Zeitpunktmöglich, wenn es ihrer bedarf. Und man sollte dabei nicht übersehen, dass der Staat weder der einzige noch der bedeutendste Nutznießer dieser Machttechnologien ist.
Das jedoch ändert nichts an der mit umfassender Überwachung verbundenen Schreckensvision, egal ob es um Terrorismusbekämpfung oder Vermarktung von Konsumgütern und damit auch Beeinflussung von Wünschen, Träumen, Hoffnungen und letztlich der Identitätsbildung geht – im Gegenteil. Wie diese in der Praxis aussehen könnte, hat George Orwell schon 1949 formuliert: „Behind Winston’s back the voice from the telescreen was still babbling away about pig-iron and the overfulfilment of the Ninth Three-Year Plan. The telescreen received and transmitted simultaneously. Any sound that Winston made, above the level of a very low whisper, would be picked up by it, moreover, so long as he remained within the field of vision which the metal plaque commanded, he could be seen as well as heard. There was of course no way of knowing whether you were being watched at any given moment. How often, or on what system, the Thought Police plugged in on any individual wire was guesswork. It was even conceivable that they watched everybody all the time. But at any rate they could plug in your wire whenever they wanted to. You had to live — did live, from habit that became instinct — in the assumption that every sound you made was overheard, and, except in darkness, every movement scrutinized.“ (Orwell 1949, zitiert nach www.george-orwell.org)
Literatur:
- Baudrillard, Jean (1998[1970]): The Consumer Society. Myths and Structures. London/Thousand Oaks/New Delhi
- Baudrillard, Jean 2005 [1976]: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin
- Derrida, Jacques 2003: Schurken. Frankfurt am Main
- Foucault, Michel 1994 [1976]: Überwachen und Strafen. Frankfurt am Main
- Frankenberger, Rolf 2008: Die Postmoderne Gesellschaft. In: Frankenberger, Rolf / Meyer, Gerd: Postmoderne und Persönlichkeit. Baden-Baden, S.11-56
- Orwell, George 1949: 1984, London, Online unter: http://www.george-orwell.org/1984/index.html
- Sloterdijk, Peter 2005: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt am Main.
- Ueltzhöffer, Jörg 1999: Europa auf dem Weg in die Postmoderne – Transnationale Soziale Milieus und gesellschaftliche Spannungslinien in der Europäischen Union. In: Merkel, Wolfgang / Busch, Andreas (Hrsg.): Demokratie in Ost und West. Festschrift für Klaus von Beyme. Frankfurt am Main, S. 624-652; Online unter: http://www.sigma-online.com/de/Articles_and_Reports/ ( mit der rechten Maustaste, dann Ziel speichen unter)
- http://www.bmi.bund.de/cln_012/nn_165104/Internet/Content/Nachrichten/Reden/2007/09/Rede__BM__BT.html
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