Russland im Dezember 2017 – Einschätzungen und Vortrag von Jens Siegert

Wladimir Putin wird im März erneut als Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen antreten. So weit, so wenig überraschend. Sollte er die Wahl im März gewinnen – womit zu rechnen ist – wäre er am Ende seiner Amtszeit 72 Jahre alt und nach Josef Stalin der am längsten regierende Herrscher in Russland. Und damit ein Symbol für Stabilität.

Nicht nur im Westen figuriert Politik in Russland sehr stark entlang der Person des Präsidenten. In der wissenschaftlicen Analyse politischer Systeme zeigt sich ein wesentlich differenzierteres Bild. Denn dabei geht es viel mehr als nur um die Figur des herrschenden um die Frage, wie Herrschaft organisiert ist, welche Strukturen und Institutionen das Verhältnis zwischen Herrschern und herrschenden bestehen und wie Herrschaft ausgeübt wird. Rein personale Herrschaft ist dennoch etwas, das empirisch kaum vorkommt, weder in Diktaturen, noch in so genannten hybriden Regimen. Denn in der Regel stützt sich Herrschaft auf einen größeren Apparat, sei es das Militär, eine Partei, die Bürokratie oder eine besondere gesellschaftliche Gruppe. Es handelt sich dabei meist um ein komplexes Wechselspiel verschiedener politischer Kräfte und Institutionen. Herrschaftsmodelle spiegeln sich dann auch in den gängigen Indizes zur Analyse von politischen Systemen wider, die beispielsweise die Existenz und  Verwirklichung politischer Rechte und bürgerlicher Freiheiten messen. Dazu ein paar Zahlen zu Russland: Bei Freedom House wird Russland als Not Free mit einem Zahlenwert von 6,5 (auf einer Skala von 1-7) geratet, vom Economist Index of Democracy mit einem Wert von 3,24 (auf einer Skala von 10-1) und der Typologisierung “Authoritarian”. Von einer wie auch immer gelabelten Demokratie ist Russland weit entfernt.

Doch was steht hinter “Putins starkem Staat”? Wie sind Status Quo und Ausblick im autoritären Russland unter Putin zu bewerten? Darauf ging Jens Siegert, langjähriger Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau, am 7.Dezember in seinem Vortrag an der Universität Tübingen ein.

Jens Siegert präsentierte ein vielschichtiges und kenntnisreiches Bild des politischen Systems, der zentralen Akteure und der Zukunftsaussichten. Seine Befunde fdecken sich einerseits mit den Befunden der oben angeführten Indizes, andererseits ergänzt er sie durch seine vielfältigen persönlichen Einblicke. Wesentliche Befunde sind dabei die Zentralisierung der Macht, die Herstellung weitgehender politischer Stabilität sowie damit einhergehend die kontinuierliche Einschränkung von bürgerlichen Freiheitsrechten über die letzten 17 Jahre hinweg. Hinzu komme eine nach dem vor allem den Rohstoffpreisen geschuldeten wirtschaftlichen Aufschwung zu Beginn der 2000er eine tiefe Rezession, in der deutlich werde wie notwendig eine grundlegende Modernisierung der russischen Wirtschaft sei, die jedoch kaum angegangen werde. Nicht zuletzt zeige sich schon jetzt eines der Kernprobleme autoritärer Herrschaft: die Frage der Herrschaftsnachfolge. Nach dem mehr oder weniger gescheiterten Experiment mit der MAchtrochade zwischen Putin und Medwedew fehle es momentan schlicht an politischen Alternativen und daher auch an Wandlungsperspektiven.

Knapp einhundert ZuhörerInnen folgten dem Vortrag und diskutierten anschließend rege mit Herrn Siegert. Ein besonderer Dank gilt Annette Goerlich von der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg, die den Gastvortrag von Jens Siegert in Tübingen möglich gemacht hat.

 

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